
Kennst du das? Deine To-Do-Liste ist lang, aber statt endlich mit der Hausarbeit, der Steuererklärung oder einem wichtigen Projekt anzufangen, fängst du an, deinen Schreibtisch aufzuräumen oder „nur kurz“ auf Social Media zu scrollen. Willkommen im Alltag der Prokrastination, auch bekannt als Aufschieberitis.
Ob im Studium, im Job oder zu Hause: Prokrastinieren ist ein verbreitetes Verhalten, das viele Menschen betrifft. In diesem Artikel erfährst du, warum wir aufschieben, was wirklich dahintersteckt, und vor allem: was du dagegen tun kannst.
Das Wort Prokrastination stammt aus dem Lateinischen (procrastinare) und bedeutet „verschieben“ oder „vertagen“. Gemeint ist ein Verhalten, bei dem man wichtige Aufgaben immer wieder aufschiebt – oft bis zum letzten Drücker.
Die Westfälische Wilhelms Universität Münster hat dieses Phänomen intensiv erforscht. Sogar eine Prokrastinationsambulanz wurde dort eingerichtet, um Betroffenen gezielt Hilfe anzubieten. Auch an der Universitätsmedizin Mainz beschäftigt man sich mit der Behandlung dieser weit verbreiteten Arbeitsstörung.
Prokrastination, das ständige Aufschieben von Aufgaben trotz besserem Wissen, betrifft viele Menschen im Alltag. Doch es handelt sich dabei nicht einfach um Faulheit oder fehlende Disziplin. Die Forschung zeigt, dass komplexe psychologische Prozesse dahinterstehen, insbesondere im Zusammenspiel von Motivation, Emotionsregulation und Selbstwertgefühl.
Was ist Prokrastination wirklich?
Laut Filisetti (2024) wird Prokrastination definiert als das irrationale Verschieben von geplanten Handlungen, obwohl negative Konsequenzen absehbar sind. Besonders häufig tritt sie bei Aufgaben auf, die als unangenehm, unklar oder überfordernd wahrgenommen werden. Sie ist keine Störung per se, kann aber erhebliche psychosoziale Folgen haben, darunter Stress, Selbstzweifel und Leistungseinbrüche .
Psychologische Hintergründe: Warum wir prokrastinieren
Es gibt viele Gründe für Prokrastination, meist handelt es sich um eine Mischung aus inneren und äusseren Faktoren:
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Perfektionismus: „Ich fange erst an, wenn ich den perfekten Plan habe.“
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Angst zu scheitern: „Was, wenn ich es nicht gut genug mache?“
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Fehlende Motivation: „Ich hab gerade keine Energie.“
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Unklarer Umfang: „Ich weiss nicht, wie ich anfangen soll.“
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Geringe Selbststeuerung: Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, fehlt.
Laut dem Psychologen Fred Rist von der Universität Münster ist Prokrastination keine Faulheit, sondern eine Störung des Arbeitsverhaltens, oft verknüpft mit schlechter Selbststeuerung, Angst, oder negativen Erfahrungen.
Vielleicht kennst du das: Du musst eine Hausarbeit schreiben oder einen Bericht fertigstellen. Stattdessen sortierst du alte E-Mails oder liest einen Artikel über produktives Arbeiten. Klingt paradox? Ist aber genau das, was viele Prokrastinierende tun. Selbst einfache To-Dos werden zur Herausforderung, und aus einem kleinen Aufschub wird schnell eine dauerhafte Angewohnheit.
In den letzten Jahren hat die Forschung zunehmend Zusammenhänge zwischen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Belohnungssystemen im Gehirn und digitalen Reizüberflutungen wie Social Media oder On-Demand-Unterhaltung erkannt, und diese stehen in engem Zusammenhang mit der Zunahme von Prokrastination.
ADHS, Dopamin und das Belohnungssystem
Menschen mit ADHS haben ein neurobiologisch verändertes Belohnungssystem. Zahlreiche Studien zeigen, dass bei ihnen der Dopaminspiegel, der Neurotransmitter, der für Motivation, Antrieb und Belohnung zuständig ist, vermindert oder instabil ist (Orendarchuk, 2024). Dadurch suchen Betroffene ständig nach neuen Reizen oder schnellen Belohnungen, um ein „normales“ Aktivierungsniveau zu erreichen. Dies erklärt auch, warum monotone oder unklare Aufgaben besonders schwerfallen, sie lösen schlichtweg keine motivierende Belohnungsreaktion im Gehirn aus.
Warum Social Media & digitale Reize alles verschärfen
Social-Media-Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube sind darauf programmiert, uns in kurzen, hochbelohnten Intervallen zu stimulieren. Jedes Like, jeder Scroll, jeder neue Clip liefert eine kleine Dopamin-Ausschüttung, unser Gehirn gewöhnt sich schnell daran und will mehr. Für Menschen mit ADHS oder einer Neigung zu Prokrastination ist das besonders problematisch: Diese Mikrobelohnungen sind leichter verfügbar als eine langfristige Belohnung durch das Erledigen einer Aufgabe.
Prokrastination im Dopamin-Zeitalter
Was bedeutet das für unser Verhalten? Unser Gehirn verlernt zunehmend, auf langsame, langfristige Belohnungen (z. B. „Ich lerne jetzt, damit ich in 3 Wochen die Prüfung bestehe“) zu reagieren. Stattdessen suchen wir nach sofortiger Stimulation, auch wenn diese uns langfristig schadet. Dadurch steigt die Tendenz zur Prokrastination, weil unser neuronales System auf kurzfristige Reize geeicht ist und anstrengende Aufgaben emotional als „leer“ oder „unerträglich“ erlebt werden.
Prokrastination ist kein reines Zeitmanagementproblem. Sie ist ein Symptom eines tiefgreifenden Ungleichgewichts im Belohnungssystem, verstärkt durch unseren digitalen Alltag. Gerade in Kombination mit ADHS-Tendenzen kann sie chronisch werden. Ein bewusster Umgang mit Medien, gezieltes Dopamin-Management (z. B. durch Bewegung, Schlaf, Achtsamkeit) und strukturierte Strategien im Alltag sind entscheidende Hebel, um gegenzusteuern.
Was sind die Folgen?
Die aktuelle Forschung zeigt, dass Prokrastination oft als kurzfristige Emotionsregulation dient. Statt einer unliebsamen Aufgabe stellen sich kurzfristig angenehmere Alternativen ein, ein Verhalten, das in neuropsychologischen Mustern begründet ist: Menschen mit Prokrastinationsverhalten zeigen laut aktuellen Studien eine verstärkte Aktivität im limbischen System, insbesondere bei Belohnungsvermeidung und sofortigem Lustgewinn (Orendarchuk, 2024). Diese kurzfristige Erleichterung geht jedoch langfristig mit erhöhtem Stress und Schuldgefühlen einher.
Prokrastination hat langfristig oft negative Auswirkungen auf dein Leben:
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Dauerstress und ein schlechtes Gewissen
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Schlafprobleme und Erschöpfung
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Verschlechterte Leistungen im Beruf oder Studium
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Verlust von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl
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Gescheiterte Ziele und verpasste Chancen
Manche entwickeln sogar ein Störungsbild, bei dem Aufschub das gesamte Leben dominiert.
Tipps gegen Prokrastination: Was du konkret tun kannst
Die gute Nachricht: Aufschiebeverhalten ist veränderbar! Hier sind einige praktische Tipps, mit denen du wieder in die Handlung kommst:
1. Kleine Schritte statt grosser Brocken
Grosse To-Do‘s wirken überfordernd. Zerlege sie in Mini-Aufgaben, das senkt die Hürde.
2. Zeitfenster setzen (z. B. Pomodoro-Technik)
25 Minuten konzentriert arbeiten, dann 5 Minuten Pause. So bleibst du fokussiert.
3. Belohnungen einbauen
Motiviere dich durch kleine Belohnungen nach erledigten Aufgaben.
4. Umgebung aufräumen
Ein klarer Schreibtisch schafft Klarheit im Kopf. Entferne Ablenkungen.
5. Die Macht der 2-Minuten-Regel
Wenn etwas weniger als 2 Minuten dauert, mach es sofort.
6. Selbstgespräche beobachten
Ersetze Ausreden wie „Ich hab noch Zeit“ durch „Ein Anfang ist besser als kein Anfang“.
Motivationsregulation ist ein entscheidender Hebel, um Prokrastination zu überwinden. In Studien zeigt sich, dass Strategien wie Zielklärung, mentale Kontrastierung (Gabriele Oettingen), sowie das Setzen realistischer Teilziele signifikant helfen, die Handlungskompetenz zu steigern. Besonders effektiv sind sogenannte Implementierungsintentionen („Wenn-Situation – Dann-Handlung“-Pläne), mit denen automatische Handlungsmuster aufgebaut werden können.
Prokrastination im Beruf: Aufschieben kostet Unternehmen viel
In der Arbeitswelt ist Prokrastination ein teures Problem. Verzögerte Erledigungen, ständiges Verschieben und erhöhte Fehlerquoten beeinflussen Teams, Projekte und Ergebnisse.
Arbeitgeber sollten das Verhalten nicht als blosse „Unlust“ abtun, sondern verstehen: Oft liegt ein tieferes Problem zugrunde, manchmal braucht es gezielte Unterstützung durch Coaching oder Workshops zur Selbstorganisation.
Wann du dir Unterstützung holen solltest
Wenn du merkst, dass dich das Aufschieben dauerhaft stresst, dich in deinem Alltag blockiert oder dein berufliches Leben belastet, dann ist es absolut okay (und wichtig!), dir Hilfe zu suchen.
Zeitmanagementkurse oder Coachings zur Selbststruktur oder Verhaltenstrainings können helfen, das Muster zu durchbrechen.
Das Workbook „Prokrastination überwinden“ gibt hilfreiche Tools an die Hand:
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Die 5-Minuten-Regel: Beginne die Aufgabe nur für 5 Minuten – oft folgt daraus ein Flow.
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Zeit-Tagebuch führen: Um herauszufinden, wo die Zeit wirklich bleibt.
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Selbstmitgefühl stärken: Sanft mit sich umgehen statt sich zu verurteilen.
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Aufgaben konkretisieren: Aus „Ich muss lernen“ wird „Ich lese 10 Seiten im Skript X um 14:00 Uhr“ .
- Weitere spannende Tools
Prokrastination ist ein verbreitetes, aber lösbares Phänomen. Es ist kein Zeichen von Faulheit, sondern oft Ausdruck tieferliegender emotionaler Muster und Ängste. Wer seine Motivationsregulation stärkt und psychologische Strategien anwendet, kann aus dem Teufelskreis ausbrechen, Schritt für Schritt.
Du bist nicht allein – aber du hast Handlungsspielraum
Prokrastination betrifft viele, aber sie muss nicht dein Alltag bleiben. Du kannst lernen, dein Arbeitsverhalten neu zu gestalten, deine Ziele besser zu verfolgen und Schritt für Schritt wieder in deine Motivation zurückzufinden.
Fang an, nicht perfekt, nicht komplett, aber jetzt.
Quellen:
Filisetti, K. (2024). Prävention von Prokrastination durch Motivationsregulation. Seminararbeit Hochschule Luzern.
Orendarchuk, M. (2024). Psychosoziale Auswirkungen von ADHS bei Erwachsenen. Universität Zürich.
Oettingen, G. & Mayer, D. (2002). The motivating function of thinking about the future: Expectations versus fantasies. Journal of Personality and Social Psychology, 83(5), 1198–1212.
Oettingen, G. (2014). Rethinking Positive Thinking: Inside the New Science of Motivation.