Herbst, Achtsamkeit und der Blick auf das Positive: Ein Plädoyer für den Perspektivwechsel

Der Herbst ist eine Jahreszeit, die oft gemischte Gefühle in uns weckt. Wenn die Tage kürzer werden, die Luft kühler und der Nebel sich über die Landschaft legt, neigen viele dazu, die Veränderungen als negativ zu empfinden. Auch ich spüre oft zu Beginn des Herbstes eine Traurigkeit – die Kälte scheint bedrohlich, der Abschied vom Sommer schmerzt, und die grauen Wolken scheinen alles zu verhüllen.

Doch der Herbst hat mich im Laufe der Jahre eines gelehrt: Hinter den vermeintlich dunklen Vorahnungen verbirgt sich ungeahnte Schönheit, wenn man nur den Blick darauf richtet. Diese Erkenntnis lässt sich nicht nur auf die Natur anwenden, sondern auf viele Lebensbereiche, einschliesslich der psychologischen Arbeit mit Menschen.

Der Negativity Bias: Warum wir das Schlechte oft stärker wahrnehmen

Eines der zentralen Konzepte in der Psychologie, das unseren Umgang mit schwierigen Situationen prägt, ist der Negativity Bias. Dieser beschreibt die menschliche Tendenz, negative Erlebnisse, Gedanken und Emotionen stärker zu gewichten als positive. Studien haben gezeigt, dass unser Gehirn evolutionär darauf ausgelegt ist, Bedrohungen und Gefahren mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um unser Überleben zu sichern. Diese Überlebensstrategie, die unseren Vorfahren das Leben rettete, wirkt sich heute in vielen Situationen hinderlich auf unser emotionales Wohlbefinden aus.

Wir neigen dazu, das Negative um uns herum zu fokussieren – ob es sich um berufliche Herausforderungen, zwischenmenschliche Konflikte oder schlichtweg den Wechsel der Jahreszeiten handelt. Dies kann zu einem Gefühl der Überwältigung und sogar zur kognitiven Verzerrung führen, bei der wir das Positive völlig übersehen.

Achtsamkeit als Schlüssel zur Bewältigung

Hier kommt Achtsamkeit ins Spiel – eine Praxis, die uns lehrt, bewusst im gegenwärtigen Moment zu verweilen und unsere Wahrnehmung zu schärfen. Durch Achtsamkeit können wir lernen, den automatischen Negativity Bias zu durchbrechen und unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was gut und schön ist, selbst inmitten von Unsicherheiten und Herausforderungen.

Eine Vielzahl von Studien, darunter Arbeiten von Jon Kabat-Zinn, dem Pionier der Achtsamkeitsforschung, zeigen, dass Achtsamkeit nicht nur das Wohlbefinden steigert, sondern auch die Resilienz gegenüber Stress verbessert und die emotionale Stabilität fördert.

Psychologisch betrachtet neigen Menschen dazu, den Herbst oft mit dem Ende des Sommers und dem Beginn des Winters zu verbinden, was manchmal negative Gefühle weckt. Doch durch Mindfulness, das bewusste Gewahrsein des Hier und Jetzt, können wir den Blick auf das Positive lenken. Die verschiedenen Farben und Veränderungen des Herbstes sind nicht nur ein äusserer Wandel, sondern auch eine Möglichkeit, innerlich zur Ruhe zu kommen und den eigenen Zustand zu reflektieren. Diese Jahreszeit erinnert uns daran, dass das Leben, ähnlich dem Wechsel der Jahreszeiten, ständigen Veränderungen unterliegt. Achtsamkeitstraining ist eine wirksame Methode, um Stress abzubauen und unser Wohlbefinden zu steigern – durch Übung, Akzeptanz und eine neue Orientierung auf die positiven Aspekte der Natur.

Im Kontext meiner Coaching-Arbeit erlebe ich oft, wie meine Kunden tief in negativen Denkmustern gefangen sind. Sie sehen die Welt durch eine Linse der Angst, des Mangels oder der Unzufriedenheit. Doch ein kleiner Perspektivwechsel – ein Moment der Achtsamkeit, in dem sie lernen, das Positive zu erkennen – kann den Wendepunkt darstellen. Dieser Moment kann Beziehungen retten, berufliche Klarheit schaffen oder einfach mehr Leichtigkeit in ihr Leben bringen.

Der Herbst als Metapher für den Wandel

Der Herbst ist eine wunderbare Metapher für den inneren Wandel, den wir durch Achtsamkeit erleben können. Am Anfang sehe ich den Herbst oft als Bedrohung: Ich fürchte die Kälte und den Verlust des Sommers. Doch sobald ich innehalte und genauer hinsehe, entdecke ich die Farbenpracht, die Frische der Luft und die besondere Klarheit, die diese Jahreszeit mit sich bringt. Es ist, als würde der Herbst mich daran erinnern, dass auch hinter den schlimmsten Befürchtungen Schönheit und Klarheit verborgen sein können. Genauso, wie unsere Ängste oft unbegründet sind, so kann der Herbst uns zeigen, dass in jedem Wandel auch eine neue Perspektive auf uns wartet.

In der Psychologie ist der Fokus auf das Positive von grosser Bedeutung. Positive Psychologie, ein von Martin Seligman entwickeltes Konzept, betont die Wichtigkeit, Stärken und Potenziale zu fördern, anstatt sich ausschliesslich auf Defizite zu konzentrieren. Diese Herangehensweise ist besonders hilfreich in Zeiten der Veränderung oder Unsicherheit, wie sie der Herbst symbolisiert. Es geht darum, das zu akzeptieren, was kommt, anstatt es zu fürchten – eine Lektion, die uns die Natur lehrt.

Der Herbst ist eine besondere Jahreszeit, die uns dazu einlädt, die Schönheit und Veränderung der Natur bewusst wahrzunehmen. Die kühleren Temperaturen und das farbenfrohe Herbstlaub erinnern uns daran, wie vergänglich und wertvoll jeder Moment ist. In der Achtsamkeitspraxis hilft uns die Natur als Beispiel, den Wandel der Jahreszeiten als Teil des Lebenszyklus zu sehen.

Die Achtsamkeitsmeditation, zeigt uns, wie wichtig es ist, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten und Veränderungen nicht zu bewerten, sondern mit Akzeptanz und einem ruhigen Geisteszustand zu begegnen. Die Praxis der Achtsamkeit, wie sie in der Vipassana-Meditation gelehrt wird, unterstützt uns dabei, in den gegenwärtigen Erfahrungen Freude zu finden und den natürlichen Rhythmus des Lebens zu schätzen – auch im Herbst, wenn wir Blätter fallen sehen und die Zeit der Ernte vor uns liegt.

Vipassana-Meditation ist eine der ältesten Meditationsformen, die ihren Ursprung in den Lehren des Buddha hat. Das Wort "Vipassana" stammt aus der Pali-Sprache und bedeutet "Einsicht" oder "Klarsehen". Im Kern zielt Vipassana darauf ab, die wahre Natur der Dinge zu erkennen, indem man sich auf die unmittelbare, direkte Erfahrung konzentriert und Einsicht in die grundlegenden Prozesse des Geistes und des Körpers gewinnt.

Im Gegensatz zu anderen Meditationspraktiken, die oft auf die Beruhigung des Geistes abzielen, liegt bei Vipassana der Fokus darauf, das Gewahrsein für die eigenen Gedanken, Emotionen und körperlichen Empfindungen zu schärfen, ohne sie zu bewerten oder zu verändern. Ziel ist es, durch das reine Beobachten Einsicht in die Vergänglichkeit, das Leiden und die Bedingtheit aller Erfahrungen zu erlangen. Vipassana lehrt, dass alles, was wir erleben, in einem ständigen Fluss des Entstehens und Vergehens ist.

Die Praxis erfordert eine disziplinierte Konzentration auf den Atem und die achtsame Wahrnehmung der körperlichen Empfindungen. In der Regel wird Vipassana über mehrere Tage in Retreats praktiziert, die strikte Stille und eine geregelte Struktur beinhalten.

Marcel Proust und die Eile der Menschen

Marcel Proust, einer der grossen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, fasste es in einem seiner Zitate perfekt zusammen: „Alle Menschen sind immer eilig, und man geht schon fort, wenn man erst ankommen sollte.“ Dieses Zitat beschreibt treffend unsere menschliche Tendenz, dem gegenwärtigen Moment zu entfliehen, anstatt ihn anzunehmen. Wir sind oft so sehr darauf fokussiert, das Dunkle oder Unangenehme zu vermeiden, dass wir die Chance verpassen, in der Realität des Moments zu verweilen und die darin verborgene Schönheit zu entdecken.

Prousts Worte lehren uns, dass es keine Eile gibt, aus dem Jetzt zu entfliehen. Im Gegenteil: Wenn wir innehalten und das akzeptieren, was ist – sei es der Übergang vom Sommer zum Herbst oder die Herausforderungen des Alltags – können wir wertvolle Erkenntnisse gewinnen. In der Achtsamkeitspraxis nennt man das akzeptierendes Bewusstsein: Die Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment ohne Urteil wahrzunehmen.

Das Privileg der vier Jahreszeiten

Leben in einem Land mit vier Jahreszeiten ist ein Privileg, das wir oft unterschätzen. Jede Jahreszeit bringt ihre eigene Schönheit und ihre eigene Lehre mit sich. Der Frühling symbolisiert Neuanfang und Wachstum, der Sommer steht für Fülle und Freude, der Herbst für Loslassen und Reflektion, und der Winter erinnert uns an die Bedeutung der Ruhe und Erneuerung. Dieses natürliche Zyklusgefühl kann uns lehren, wie wir uns den Veränderungen in unserem Leben anpassen und dabei wachsen können.

Viele Menschen, die in konstanten Klimazonen leben, verpassen diesen Wechsel und die damit verbundenen Lektionen. Der Herbst zeigt uns auf symbolische Weise, wie wichtig es ist, Veränderung anzunehmen, loszulassen und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind – nicht nur, wie wir sie uns vorstellen.

Fazit: Der Weg zu mehr Achtsamkeit und positiver Perspektive

Achtsamkeit hilft uns, die Natur als Lehrer zu sehen, den Negativity Bias zu durchbrechen und den gegenwärtigen Moment – mit all seinen Farben und Facetten – bewusst zu erleben. Ob im Coaching oder im Alltag: Ein kleiner Perspektivwechsel, der Fokus auf das Positive, kann uns helfen, das Schöne inmitten von Herausforderungen zu entdecken.

Der Herbst ist eine Einladung, langsamer zu werden und innezuhalten. Wenn wir aufhören, vor dem zu fliehen, was wir als unangenehm empfinden, öffnen sich oft neue, frische Perspektiven, die uns helfen, das Leben in seiner ganzen Tiefe zu erfahren. Manchmal reicht dieser eine Moment des Innehaltens aus, um den Weg in eine erfüllendere Zukunft zu ebnen.

Geschrieben von Mara Schär

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