Unsicher Vermeindende Bindung: Warum Nähe schwierig wird und wie Heilung möglich ist

Es gibt Menschen, die in Beziehungen zurückhaltend, unabhängig, oft auch emotional distanziert wirken. Sie lassen Nähe kaum zu, reagieren auf intensive Gefühle mit Rückzug – und stossen selbst liebevolle Partner oft unbewusst weg.

Was oft als emotionale Distanziertheit wahrgenommen wird, ist in vielen Fällen Ausdruck eines tief verwurzelten Bindungsmusters – der unsicher-vermeidenden Bindung. Dieser Bindungsstil entsteht meist unbewusst in der frühen Kindheit, häufig als Reaktion auf Erfahrungen, in denen emotionale Bedürfnisse ignoriert oder abgewertet wurden..

In diesem Artikel erfährst du, was die unsicher vermeidende Bindung genau ist, wie sie entsteht, wie sich Betroffene verhalten und welche Wege es gibt, Heilung und Verbindung zu ermöglichen.

Bindung: Was sie bedeutet – und warum sie so prägend ist

Die Bindungstheorie, die u. a. vom Psychoanalytiker John Bowlby entwickelt wurde, geht davon aus, dass die ersten Beziehungen im Leben – vor allem zu Bezugspersonen wie der Mutter oder dem Vater – die Grundlage für alle späteren Beziehungstypen legen.

Die zentrale Frage lautet: Wird mein Bedürfnis nach Nähe, Schutz und Trost verlässlich beantwortet?

Die Qualität dieser frühen Bindung beeinflusst, wie wir später in der Partnerschaft, im Kindergarten, im Freundeskreis oder im Berufsleben mit anderen Mitmenschen umgehen – emotional, körperlich und kommunikativ.

Die vier wichtigsten Bindungstypen

In der modernen Bindungstheorie unterscheidet man zwischen vier Bindungstypen:

  1. Sicherer Bindungsstil (B-Typ)

  2. Unsicher vermeidender Bindungsstil (A-Typ)

  3. Unsicher ambivalenter Stil (C-Typ)

  4. Desorganisierter Stil (D-Typ)

In diesem Artikel liegt der Fokus auf dem unsicher vermeidenden Bindungsstil, auch bekannt als A-Typ – und manchmal verkürzt als unsicher vermeidende Bindung bezeichnet.

Wie entsteht eine unsicher vermeidende Bindung?

Kinder, die diesen Bindungstyp entwickeln, haben häufig die Erfahrung gemacht, dass ihre Gefühle nicht willkommen waren. Ihre Eltern oder Bezugspersonen konnten vielleicht mit Nähe nicht umgehen, wiesen emotionale Bedürfnisse zurück oder forderten früh emotionale Unabhängigkeit.

Typische Erfahrungen in der Kindheit:

  • Emotionale Zurückweisung: Tränen wurden ignoriert oder kritisiert.

  • Betonung auf Leistung statt auf emotionale Verbindung.

  • Kühle, distanzierte Eltern Kind Beziehung.

  • Erziehung, die Autonomie betont – ohne Sicherheit zu bieten.

  • Eltern, die selbst emotional überfordert waren.

Im Fremde-Situations-Test, den Mary Ainsworth zur Erforschung der Bindungsqualität entwickelte, zeigten Kinder mit diesem Stil keine sichtbare Angst oder Trauer, wenn ihre Bezugsperson ging, obwohl sie physiologisch stark gestresst waren.

Ihr Verhalten zeigt: Wenn meine Nähebedürfnisse nichts bringen, dann unterdrücke ich sie lieber ganz.

Verhaltensmuster in der unsicher vermeidenden Bindung

1. Unabhängigkeit wird überbetont

Betroffene leben oft nach dem Motto: Ich brauche niemanden. Nähe wird als Bedrohung der Freiheit empfunden.

2. Schwierigkeiten, über Gefühle zu sprechen

Emotionen werden häufig rationalisiert oder unterdrückt. Es fehlt der Zugang zur eigenen Gefühlswelt.

3. Nähe und Distanz wechseln sich ab

Kaum entsteht emotionale Nähe, kommt der Rückzug. Der Partner erlebt ein Wechselspiel aus Nähe und Kälte.

4. Geringe Erwartungshaltung an andere

Viele Betroffene haben verinnerlicht: Verlass dich auf niemanden, dann wirst du nicht enttäuscht.

5. Überkontrolle im Alltag

Um emotionalen Schmerz zu vermeiden, wird versucht, das eigene Leben, Beziehungen, sogar die Gefühle anderer unter Kontrolle zu halten.

Auswirkungen in Partnerschaften

In der Partnerschaft kann dieser Bindungsstil besonders herausfordernd sein. Der unsicher vermeidende Mensch wirkt oft selbstbewusst, unabhängig und emotional ruhig. Doch unter der Oberfläche liegt oft tiefe Unsicherheit und die Angst, sich zu verlieren.

Typische Reaktionen:

  • Rückzug in Konfliktsituationen

  • Schwierigkeit, „Ich liebe dich“ zu sagen oder Nähe zuzulassen

  • Vermeidung von Abhängigkeit, auch in kleinen Alltagsmomenten

  • Ablehnung von zu vielen Erwartungen oder „zu viel Nähe“

Der Partner empfindet das oft als Ablehnung, obwohl es tatsächlich eine tief sitzende Bindungsangst ist.

Umgang mit einem unsicher vermeidenden Bindungstyp

Wenn du mit einem Menschen mit unsicher vermeidender Bindung lebst oder liebst, brauchst du viel Geduld, aber auch klare Grenzen.

Was hilft:

  • Nicht persönlich nehmen, wenn Nähe abgewehrt wird

  • Eigene Bedürfnisse klar kommunizieren

  • Erwartungshaltung überprüfen: Was kannst du geben – was nicht?

  • Ermutigen, aber nicht drängen

  • Raum geben, ohne sich selbst zu verlieren

Wichtig ist: Du kannst niemanden heilen, aber du kannst dich entscheiden, ob du diesen Weg mitgehen möchtest.

Wenn man selbst betroffen ist

Erkennst du dich selbst in diesen Mustern wieder? Fühlst du dich schnell eingeengt, überfordert von Nähe oder taub für Gefühle?

Dann ist das kein persönliches Versagen, sondern das Resultat einer frühen Überlebensstrategie.

Was du tun kannst:

  • Beginne mit Selbstbeobachtung: Wann weiche ich aus? Warum?

  • Führe ein Gefühlstagebuch: Welche Situationen lösen Rückzug aus?

  • Informiere dich über die Bindungstheorie, z. B. über Inhalte auf deiner Lieblings-Website, in Podcasts oder Fachbüchern.

  • Beginne eine Therapie, um alte Erfahrungen aufzuarbeiten.

  • Lerne, Bedürfnisse zu erkennen und mitzuteilen.

Veränderung ist möglich, mit Geduld, Resilienz und der richtigen Unterstützung.

Behandlung und therapeutische Wege

Die unsicher vermeidende Bindung kann sich im Laufe des Lebens verändern – vor allem durch bewusste Arbeit an den eigenen Einstellungen, durch heilsame Beziehungen und durch psychotherapeutische Begleitung.

Wirksame Ansätze:

  • Bindungsorientierte Psychotherapie

  • Körperorientierte Verfahren (z. B. Somatic Experiencing)

  • Traumatherapie bei tiefer liegenden Wunden

  • Paartherapie zur Bearbeitung von Beziehungskonflikten

  • Begleitendes Coaching bei unsicherem Bindungsverhalten

Besonders wichtig: Eine sichere therapeutische oder Coaching Beziehung, in der du lernst, Vertrauen zu entwickeln.

Liebe ist möglich – auch mit unsicherem Bindungsstil

Es gibt keine perfekten Menschen, keine perfekten Beziehungen.
Aber: Liebe ist möglich :). Auch mit einem unsicher vermeidenden Bindungsstil.

Was es braucht:

  • Selbsterkenntnis

  • Mut, verletzlich zu sein

  • Offenheit für neue Strategien im Umgang mit Nähe

  • Partner, die mitgehen, ohne sich selbst zu verlieren

Ein Bindungsverhalten kann sich verändern, wenn du dich auf den Weg machst.

Bindung ist kein Schicksal – sie ist lernbar

Die unsicher vermeidende Bindung ist keine feste Definition deiner Persönlichkeit. Sie beschreibt ein Muster, das du einst gebraucht hast und das du heute vielleicht loslassen darfst.

Du bist nicht falsch. Du bist nicht beziehungsunfähig. Du bist ein Mensch mit Geschichte, mit Gefühlen, mit dem Wunsch nach Verbindung.

Und genau das ist der Anfang: die Erkenntnis, dass Nähe kein Risiko ist – sondern eine Chance.

Konstenloses 1:1 Gespräch vereinbaren

Kategorie: bindungsmuster, stand, theorie, beziehungstyp, person, rolle

Written by Mara Schär

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